Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Vom ersten Moment an, in dem ich von dir erfuhr, habe ich dich geliebt. Ich bin fast geplatzt vor Freude, doch der bittere Beigeschmack ließ die Euphorie fade werden. Denn ich wusste, was das bedeutete.
Einmal schon hatte es die Entscheidung gegeben, es oder er. Doch nicht ich habe diese Entscheidung getroffen. Sie wurde mir aufgezwungen, mit allen Mitteln. Was ich auch tat, es war zwecklos. Mit dir war es anders. Nachdem ich meinem Engel unter Tränen und mit größter Abneigung dieser Entscheidung gegenüber Flügel gegeben hatte, hatte sich vieles verändert. Um nichts in der Welt wollte ich noch einmal diesen unsagbaren Schmerz durchleben müssen, den der Verlust deines Geschwisterchens für mich bedeutete.
Doch er fragte nicht nach anderen, er nahm sich einfach was er wollte. Und so nahm er mich. Vergewaltigte mich und pflanzte mir den Samen ein, aus dem du entstehen solltest. Wochen vergingen, die Wunden heilten nur schlecht. Und dann zwei Streifen. Ich weinte. Vor Freude. Aber auch aus Angst. Das hätte nicht passieren dürfen.
Anders als beim ersten Mal entschied er dieses Mal, dass wir dich behalten würden. Wieder eine Entscheidung, die nicht ich treffen durfte – dabei war es mein Herz, unter welchem du einen Platz gefunden hattest. Er war überzeugt davon, dass ich über die früheren »Unannehmlichkeiten« hinwegsehen könnte. Dass wir eine richtige Familie sein könnten – was auch immer in seinen Augen eine Familie war. Wir müssten dann noch heiraten, damit du nicht unehelich zur Welt kommen würdest.
Ich spielte mit. In dem Wissen, dass ich nicht nur allein für dein Leben verantwortlich war. Ich musste eine Entscheidung treffen, die ich nicht treffen wollte. Egal, wie ich mich entscheiden würde, es würde weh tun. Ich gab ihm noch eine Chance – eine letzte. Für uns. Für dich. Ich hätte alles für dich getan, wenn es nur dich gegeben hätte. Aber es gab nicht nur dich. Tage und Wochen vergingen, mit jedem Tag wurde die Zeit knapper. Die Entscheidung schwieriger.
Schnell stellte sich jedoch heraus, dass sich nichts verändert hatte. Er tat deinen Brüdern weh. Er tat mir weh. Und irgendwann würde er auch dir weh tun. Dein Vater war ein Monster – darüber konnte ich nicht hinwegsehen. So sehr ich dich liebte, musste ich dich gehen lassen. Zu deinem eigenen Schutz – und zu meinem.
Ich hatte Angst, solche Angst. Ich hätte dir nie das Leben geben können, das du verdient hättest. Mit dem Wissen, was er mir angetan hat. Du hättest mich jeden Tag daran erinnert. Mit dem Wissen, was er dir früher oder später antun würde. In deinem Gesicht hätte ich immer auch das seine gesehen. Vor allem hätte ich dich nie so lieben können, wie es dir gebührt hätte. Ich hätte dir niemals gerecht werden können. Und das war meine größte Angst.
Ich zahlte den höchsten Preis und schenkte auch dir Flügel. Ich werde nie sehen, wie du groß geworden wärst. Ich werde nie deine Hand halten. Ich werde dich nie trösten können, wenn Kummer dein kleines Herz geplagt hätte. Ich werde dir nie die Liebe zeigen können, die ich ab dem ersten Moment für dich empfunden habe.
Als ich die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen habe, hat dein Herz bereits geschlagen. So klein und zaghaft, aber es war da. Mit jedem Herzschlag von deinem, starb ein kleiner Teil in meinem. Unsere Herzen schlugen untereinander, in demselben Körper. Tränenüberströmt saß ich vor deiner Oma und habe ihr gesagt, dass ich das alles nicht will. Ich wollte es nicht, aber zeitgleich konnte ich auch nicht so weiter machen.
Du warst noch so klein, so unschuldig. Um nichts in der Welt hättest du verdient, was dann folgte. Ich riss mich von deinem Vater los und fand endlich einen Weg aus seinen Fängen. Wir waren allein. Und dennoch war ich mir sicher, dass ich dir nie eine gute Mutter sein könnte. Ich wusste natürlich nicht, was gewesen wäre, wenn, aber allein die Wahrscheinlichkeit reichte aus, um nichts zu riskieren.
Ich liebte dich so sehr – und tue es noch. Du hast einen Teil von mir mit dir genommen, als du dich auf den Weg in die Sterne gemacht hast. Einen Teil meines Herzens, welcher für immer bei dir sein wird. Vielleicht wirst du viele Dinge nicht verstehen, die ich getan habe, aber glaub mir wenn ich dir sage, dass ich es für dich getan habe. Für uns.
Vielleicht war es ein Fehler, dich gehen zu lassen, aber es war kein Fehler, dich zu beschützen. Und mehr zu beschützen, als dich in den Himmel zu schicken, hätte ich nicht gekonnt. Hier auf Erden war ich machtlos. Kein Wort und keine Hand hätte dich vor dem schützen können, was dein Vater für dich bereit hielt.
Dort oben jedoch bist du sicher. Und nun muss ich dich ein zweites Mal gehen lassen. Loslassen, damit die Wunden heilen können. Bitte hasse mich nicht. Ich habe Fehler gemacht und war stets bemüht, das Richtige zu tun. Doch manche Entscheidungen sind weder falsch noch richtig und dennoch müssen sie getroffen werden.
Ich traf meine Entscheidung – und zahlte einen hohen Preis, vielleicht sogar den höchsten. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Es vergeht kein Tag, an dem ich dich nicht vermisse. Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass es hätte anders laufen können. Ich werde dich niemals laufen lernen sehen. Ich werde niemals deinen ersten Liebeskummer erleben. Ich werde mir niemals vor Sorge den Kopf zerbrechen können. Ich werde niemals deine Hand halten und dich spüren können.
Und auch wenn ich deinen kleinen Körper niemals tragen durfte, so werde ich dich doch für immer in meinem Herzen tragen. Und dich die Liebe spüren lassen, die ich dir auf Erden nicht hätte geben können.
Weil ich dich liebe, lasse ich dich frei.
Flieg, mein kleiner Engel.
Bis in alle Ewigkeit.