Was passiert, wenn eine Lebenserhaltungsmaßnahme zum Feind wird? Wenn das, was dich eigentlich glücklich machen sollte und am Leben hält, genau das Gegenteil bewirkt? Dich krank macht und Unwohlsein in dir auslöst.
Immer wieder im Leben kommen wir an einen Punkt, der uns verzweifeln lässt. Der uns alles abverlangt, vielleicht auch Trigger auslöst. Wir wollen dem entfliehen, uns verstecken und erst wieder herauskommen, wenn alles wieder gut ist. Nur ist es leider in der Realität nicht so leicht.
Jeder hat eine andere Art, damit umzugehen. Manche machen exzessiv Sport, fangen an die ganze Wohnung zu putzen, gehen spazieren oder joggen oder drehen Musik so laut auf, dass es in den Ohren wehtut. Es gibt aber auch Menschen, die in die passive Rolle verfallen; sich zurückziehen, einigeln, eine Serie durch bingen oder jede Menge Essen in sich hineinstopfen – bestenfalls mit sehr viel Fett, Zucker und Kohlenhydraten.
Passiert das mal, ist das erst einmal nichts schlimmes. Zwar nicht gut, aber auch nicht bedenklich. Jeder kennt es; man fühlt sich schlecht – aus welchen Gründen auch immer – wickelt sich in eine Decke, macht einen Film oder eine Serie an und dabei löffelt man die ganze Packung Eis weg. Oder isst die ganze Tüte Chips oder Gummibärchen auf einmal. Ist doch ganz normal, oder?
Auch wenn das mal öfter passieren sollte; ist doch nicht so schlimm. Deine Freunde erzählen dir ständig, dass sie auch Fressattacken haben. Sie winken es ab und du fühlst dich schlecht. Glaubst, du würdest übertreiben. Ist doch normal, an zwei Abenden die Woche Unmengen an Essen in sich hinein zuschaufeln. Sich nicht kontrollieren oder stoppen zu können. Gedanken zu haben, die wie besessen von Essen sind und du zeitweise an nichts anderes denken kannst. Andere haben das auch, also ist es doch ganz normal – oder?
Irgendwann geht es soweit, dass die Fressattacken auch tagsüber passieren – nahezu täglich. Vielleicht an ganz schlimmen Tagen sogar mehrmals täglich. Man kommt sich vor, als wäre man ein Tier, welches seit Tagen nicht mehr gefressen hat. Wahllos wird jegliches Essen in sich hinein gestopft, was man zwischen die Finger bekommt; süß, fettig, herzhaft, zuckrig. Ganz egal, Hauptsache es geht immer weiter. Den Mund noch voll, während man sich bereits die nächsten drei Bissen hinterher schiebt. Verzweifelt versucht man, diese alles schluckende Leere in sich zu füllen – vergebens. Du versuchst, das Leben zu verschlingen, aber vielleicht verschlingt es eher dich.
Du fasst all deinen Mut zusammen und öffnest dich deiner Familie. »Du übertreibst«, »Stell dich nicht so an«, »Echt? Ich ess’ auch mal ’ne ganze Packung Gummibärchen auf einmal – dann muss ich das ja auch haben«. Resigniert gibst du auf. Fühlst dich nicht ernst genommen.
Zurück im Zimmer bekommst du eine weitere Fressattacke. Du hortest mittlerweile reihenweise Lebensmittel in deinem Zimmer, damit es den anderen nicht auffällt und keine Fragen gestellt werden. Denn es passiert nur, wenn du alleine bist. Wenn andere das mitbekommen würden – nein, das darf unter keinen Umständen passieren! Was würden sie von dir denken? Wo du doch eh schon zugenommen hast.
Wenn du zum Essen eingeladen wirst, lehnst du dankend ab. Grundsätzlich vermeidest du es, vor anderen zu essen. Wenn dann doch kein Weg drum herum führt, isst du nur ganz wenig und quälst dich lieber den restlichen Abend mit Bauchschmerzen, weil du eigentlich noch Hunger hast. Den ganzen Abend drehen sich deine Gedanken nur darum. Gesprächen kannst du nur schwer folgen. Was denken sie von mir? Sie könnten mich ablehnen oder was merken. Ich schäme mich so sehr. Die müssen doch denken, dass ich viel esse so wie ich aussehe. Gedanken über Gedanken, die dich immer weiter abwerten und unheimlich stressen.
Wieder zuhause stopfst du, und stopfst, und stopfst; immer weiter, immer mehr. All deine Gedanken kreisen sich nur ums Essen. Was du dir noch reinziehen könntest, was es als nächstes zu Essen gibt, welche Vorräte du plündern kannst, ohne dass es auffällt. Besessen und wie in Trance machst du immer weiter; den Mund noch nicht wieder ganz leer, schiebst du dir bereits die nächsten drei Bissen hinterher. Du willst aufhören, weißt, dass das schlecht ist, was du da tust. Dass es letztlich auch nur eine Form der Selbstverletzung ist und du deinem Körper damit schadest. Aber du kannst nicht.
Wie automatisiert greifen deine Hände immer wieder in die Packungen rein und füllen deinen Mund erneut mit dem Gift. Selbst als dir schon schlecht ist und du am liebsten kotzen würdest, kannst du nicht aufhören. Du hast absolut die Kontrolle verloren.
Und dann setzen irgendwann die Nachwirkungen ein; du hast Bauchschmerzen, dir ist schlecht und du fühlst dich miserabel. Du schämst dich in Grund und Boden dafür, dass du in einer halben Stunde eineinhalb Tüten Chips, die Reste vom gestrigen Mittagessen, eine halbe Packung Eis, eine Tüte Gummibärchen und ein paar lose Süßigkeiten in dich hinein gestopft hast. Du fühlst dich hundeelend. Aber du weißt; es wird wieder passieren – wahrscheinlich eher früher als später.
Und niemand kann dir helfen, weil sie dich nicht ernst nehmen. Das wird so leicht abgetan und verharmlost; ach, Fressattacken hat doch jeder mal, ist doch nichts schlimmes. Aber es ist ein Unterschied, ob man mal eine Fressattacke wegen beispielsweise Liebeskummer hat, oder ob man davon kontrolliert wird und der Zwang dein Leben bestimmt. Es ist eben nicht nur eine »Fressattacke«. Es ist seelischer Schmerz, der sich körperlich äußert. Es ist eine innere Leere, die alles verschlingt und gegen die nichts zu helfen scheint. Es ist Kontrollverlust, nach dem man sich miserabel fühlt.
Es ist nicht einfach nur »etwas mehr essen« – es ist eine ernstzunehmende Krankheit. Dieses Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, macht es noch schwieriger, darüber zu reden. Die Krankheit zu besiegen. Es ist verdammt anstrengend, andauernd dagegen ankämpfen zu müssen. Gegen diesen Drang. Gegen diesen Zwang, wahllos Essen in dich hineinstopfen zu müssen. Sich dabei vorzukommen wie ein Tier; ein Schwein, welches tagelang schon nichts mehr zu fressen bekommen hat und dann komplett ausgehungert über alles herfällt, was es vorgesetzt bekommt.
Das alles irgendwie mit sich selbst auszumachen. Sich selbst dadurch zu triggern. Durch die Gedanken daran wachgehalten zu werden und nicht schlafen zu können. Und wenn es dann zum Binge–eating kommt, dieses anschließende Gefühl des Versagens. Auf sich selbst wütend zu sein. Enttäuscht von sich selbst zu sein. Und trotzdem wieder nicht davon weg zu kommen.
Wie eine Art Sucht; du hast Schmacht, versuchst es aber zu ignorieren, weil du nicht wieder rückfällig werden möchtest. Du lenkst dich ab, immer wieder, immer mehr. Eine Zeit lang vergisst du den Drang danach. Aber dann kommt der Gedanke zurück – stärker als zuvor. Bis du am Ende an nichts anderes mehr denken kannst und letztlich doch wieder zu der Substanz greifst, von der du eigentlich weißt, dass sie schädlich für dich ist. Immer und immer wieder.
Ein Teufelskreis, dem man nicht zu entkommen scheint. Es zu unterdrücken oder zu versuchen, es zu ignorieren, wird es nur noch schlimmer machen. Es scheint aussichtslos – aber das ist es nicht. Es gibt Hilfe, die man annehmen kann. Man muss das nicht alleine durchstehen, auch wenn es sich oft genauso anfühlt. Das Essen wird die Leere in dir nicht füllen. Das hat es nie und wird es auch nicht. Wenn Hunger nicht das Problem ist, ist Essen nicht die Lösung.
Diese Leere, die du so verzweifelt zu füllen versuchst, hat seine Wurzeln ganz woanders. Versuche herauszufinden, was diese Leere verursacht und setze da an. Das Essen als solches war nie das Problem – aber unsere inneren Probleme haben es dazu werden lassen.
Eine Essstörung zu bekämpfen ist ein mühseliger und steiniger Weg, aber er ist schaffbar. Und allein für die Freiheit, sagen zu können »Mein Leben wird nicht mehr von Fressattacken bestimmt«, lohnt es sich, diesen Weg zu gehen.
Anmerkung: Essstörungen sind ein ernstes Thema und sollten nie verharmlost oder einfach so abgetan werden. Wenn sich dir jemand anvertraut und Bedenken äußerst, eine Essstörung oder psychische Erkrankung zu haben, hör zu und nimm die Person ernst. Biete bestenfalls deine Hilfe an. Dumme Floskeln wie »Kenn ich, hab ich auch«, »Stell dich nicht so an«, etc., machen es Betroffenen nur noch schwerer, sich in Zukunft zu öffnen, eine Erkrankung zu erkennen und sich helfen zu lassen. Und falls du selbst betroffen bist; nimm dich selbst ernst und such dir Hilfe. Wenn es in deinem näheren Umkreis niemanden gibt, dem du dich (im ersten Schritt) anvertrauen kannst, tu dir selbst den Gefallen und nimm professionelle Hilfe an. Du bist nicht alleine. Du kannst die Essstörung besiegen.