Schmerz ist ein relativer Begriff. Es kann weh tun, wenn man hinfällt und sich das Knie aufschlägt, es kann weh tun, jemanden, den man liebt, zu verlieren – auf welche Art und Weise auch immer – es kann aber auch weh tun, sich an Vergangenes zu erinnern oder von jemandem verlassen zu werden.
Alles sind Formen des Schmerzes, wenngleich jeder ihn anders empfindet. Es gibt körperlichen Schmerz, seelischen Schmerz, Herzschmerz. Seelischen Schmerz, der zu körperlichem Schmerz wird oder körperlicher Schmerz, der sich auf den seelischen Schmerz auswirkt. Doch egal, wie dieser sich äußert, eines haben alle Arten gemeinsam: Sie tun weh. In einem Moment kann es uns noch gut gehen, im nächsten haben wir das Gefühl, zu ersticken. Man kann ihn für lange Zeit unterdrücken und verdrängen, aber es werden immer wieder Momente kommen, in denen wir die Kontrolle verlieren und der Schmerz uns wie eine Welle überrollt. Wir wollen schreien, kreischen, um uns schlagen, etwas kaputt machen – in der Hoffnung, dass es besser wird und den Schmerz lindert. Aber das tut es nicht.
Manch einer greift zu härteren Mitteln: Alkohol, Drogen, selbstverletzendem Verhalten. Für eine kurze Zeit mögen diese Dinge auch dabei helfen, unseren eigentlichen Schmerz zu vergessen – doch es bewahrt uns nicht davor, uns dem Unvermeidbaren zu stellen: dem Schmerz selbst. Unsere innersten Dämonen sind das, wovor wir Angst haben. Wovor wir zu fliehen versuchen. Mächte so dunkel und böse, dass es uns manchmal selbst Angst macht, wenn diese sich zu erheben drohen.
Sie nehmen uns die Luft zum Atmen, isolieren uns von der Außenwelt, verwandeln den schönsten Tag in eine endlos scheinende Nacht. Die Dämonen kennen uns und wissen, wie gespielt wird. Wie sie uns um den Verstand bringen können, uns das Letzte nehmen, was wir noch besitzen: Kontrolle. Sie zwingen uns Dinge zu sehen, vor denen wir so lange die Augen verschlossen haben. Uns an etwas zu erinnern, was wir schon längst vergessen wollten. Uns an Orte zu bringen, die wir nicht kennen sollten. Niemand hat darum gebeten, mit einem – meist aber mehreren – Dämonen leben zu müssen. Trotzdem wurden sie Teil von uns.
Manchmal sind ihre Schreie unerträglich. Sie sind ohrenbetäubend, markerschütternd. Dann beginnt der Kontrollverlust; tausende Tränen laufen über das Gesicht, in denen man zu ertrinken droht, das Herz pocht wild und scheint in Einzelteile zu zerspringen, die Stimmbänder sind gelähmt obwohl man so gerne schreien will, innerlich zerreißt es uns. Solche Erlebnisse verändern uns. Schmerz verändert uns. Um da wieder hinaus zu kommen, benötigt man Mut. Mut und Kraft. Die Kraft, sich der Dunkelheit zu widersetzen, dem Schmerz ins Auge zu sehen und diesen zu heilen, um jeden Preis. Es wird Verluste geben, man wird sich verletzen und auch den einen oder anderen Rückschlag verkraften müssen – doch irgendwann wird es sich gelohnt haben, all das auf sich zu nehmen. Bevor Heilung stattfinden kann, muss der Schmerz gefühlt und durchlebt werden. Die Wunde muss fachgerecht versorgt und verbunden werden, nicht lieblos bandagiert. Manche sind dafür früher bereit als andere, denn jeder muss seinen eigenen Weg finden.
Ich selbst kann nicht beurteilen, wann mein Gegenüber dafür bereit ist, sich seinem Schmerz zu stellen. Genauso wie er es nicht für mich kann. Jeder kann sich dafür entscheiden, auch den einfachen Weg zu nehmen. Manchmal muss man das sogar, um zu überleben. Aber irgendwann befindet man sich nicht mehr im Überlebensmodus, sondern ist einfach nur Gefangener seiner selbst. Ein Konstrukt, welches wir uns zur Selbsterhaltung erschaffen haben, wird zum Gefängnis, in dem wir festsitzen. Wir müssen nicht mehr überleben, trotzdem verhalten wir uns so. Doch auch erst mal diese Erkenntnis zu gewinnen, ist ein Prozess.
In dieser ganzen Zeit tut man alles dafür, nicht noch einmal die Kontrolle zu verlieren – um nicht nochmal diesem unsagbaren Schmerz ausgesetzt zu sein. Man hält sich irgendwie über Wasser, indem man den eigentlichen Schmerz überschüttet; mit Arbeit, Alkohol, Drogen, einer Klinge am Arm oder Unmengen an Essen, die man verzweifelt in sich hineinstopft, um vergeblich diese gähnende Leere zu füllen, die man innerlich verspürt. Doch Schmerz mit anderem Schmerz zu überdecken macht es nie besser. Vielleicht für den Moment, aber letztendlich hat man dadurch nur noch mehr Probleme, die es zu beheben gilt. Und jede weitere Last kann auf kurz oder lang zum Verhängnis werden.
Wenn man so etwas selbst durchlebt hat, weiß man, wie schlimm so etwas ist und dass man daran zerbrechen oder darunter zusammenbrechen kann. Man möchte alles dafür tun, dass andere nicht genauso leiden müssen wie man selbst – doch was für einen selbst das Beste ist, kann für jemand anderen fatale Folgen haben. Es ist immer einfacher zu sagen »Ich weiß, was du brauchst« oder »Du musst das so und so machen«, aber letztlich wissen wir nicht, wie es in dem Anderen aussieht und wie weit dieser innerlich ist. Ob er noch am Anfang seiner Reise steht oder mittendrin. Das Einzige, was wir tun können, ist, ihm zur Seite zur stehen und zuzuhören, wenn dieser etwas zu sagen hat.
Wir alle befinden uns auf einer Reise, die manchmal sehr einsam scheinen kann. Wir mögen zwar alle in verschiedene Richtungen laufen, aber dennoch werden sich unsere Wege das eine oder andere Mal kreuzen und man kann ein Stück weit gemeinsam gehen. Auch wenn man es oft selbst nicht sehen kann, ist man nie wirklich ganz alleine. Und so dunkel manche Tage auch sein mögen, so mächtig die Dämonen auch sind, wir sind stärker.
Wir haben eine Geschichte, denn wir sind Überlebende!