Als ich diese Welt betrat, warst du da. Hast mich geliebt, um mich gebangt, wolltest mich vor allem Übel schützen. Als ich meine ersten Schritte tat, warst du da. Hast meine Hand gehalten, mich in Arme genommen, aufgefangen. Ich begann zu laufen, war voller Neugier und Freude, wollte die Welt entdecken – mit dir.

Ich rannte und rannte und als ich mich umdrehte, warst du fort. Ich wollte dich an die Hand nehmen, dir meine Welt zeigen – doch meine Hand griff ins Leere. Mein Lächeln, einst strahlend und funkelnd, verblasste. Anfangs nur ein wenig. Du kommst sicher bald wieder, wir warten hier auf dich. Du würdest nicht gehen ohne mich mit dir zu nehmen – deine geliebte Tochter. Du hast mir die Welt gezeigt, erklärt wie man steht.

Die Zeit verging, doch du kamst nicht zurück. Wieso kommst du nicht? Wo bist du? Kinderseelen sind so unschuldig. Man möchte sie vor jedem Übel bewahren, würde ihnen jeden Schmerz nehmen wenn man könnte. Noch so klein lauern so viele Gefahren. Dinge können verletzen, oder auch Menschen. Nie hättest du zugelassen, dass mir jemand anderes weh tut. Warum also hast du zugelassen, dass du derjenige warst, der mir weh tut?

Nie hättest du das gewollt, oder kommen gesehen. Ich war noch so klein, hatte so viel Vertrauen. Du wirst mir nicht weh tun – du nicht. Die Umarmungen waren herzlich, du warst wieder da. Nochmal wirst du nicht gehen, ganz sicher nicht. Doch noch bevor das Lachen verhallen konnte, warst du verschwunden. Ein weiteres Mal. Und mit dir ging ein weiterer Funke verloren.

Ich wurde älter, lernte damit zu leben, dass du mal da, doch die meiste Zeit weg warst. Es war ok, denn es war ja Alltag. Trotzdem liebst du mich, natürlich tust du das. Es liegt nicht an mir, dass kaum Kontakt herrscht. Oder doch? Leise Zweifel zerstreuten meinen Verstand. Vielleicht liegt es doch an mir. Ich sollte mich mal melden. Also riefen wir an, telefonierten.

Ich schrieb Briefe. Jeden Tag schaute ich in freudiger Erwartung in den Briefkasten, auf eine Antwort hoffend. Natürlich würdest du mir zurück schreiben, du hättest keinen Grund es nicht zu tun. Oder? Ich wartete. Einen Tag, zwei Tage, fünf Tage, eine Woche, zwei Wochen. Du wirst noch antworten, du brauchst nur etwas Zeit. Drei Wochen, vier. Doch es kam keine Antwort.

Bei Telefonaten fragte ich nach – für jeden Brief, auf den du nicht geantwortet hattest, gab es einen Grund. Nachdem ich alle Gründe gehört hatte, schrieb ich erneut einen Brief. Ich legte alles bei, was du brauchen würdest, um mir zu antworten. Du würdest mich nicht enttäuschen, ich konnte mich doch auf dich verlassen – oder?

Doch auch auf diesen Brief gab es keine Antwort. Und diesmal auch keinen Grund. Mein einst so strahlendes Kinderlächeln schwand. Also liegt es doch an mir. Es muss an mir liegen, sonst würdest du doch antworten. Habe ich etwas falsches geschrieben, etwas vergessen? Vielleicht hast du auch mich vergessen, oder liebst mich nicht mehr.

Mit zunehmendem Alter wuchs auch die Wut in mir. Alle meiner Freundinnen wuchsen in behüteten Familien auf. Ich konnte es kaum ertragen zu sehen, wie die Väter meiner Freundinnen mit ihnen umgingen. Wie sie kuschelten, zusammen herum alberten, ernste Gespräche führten. Dinge, die wir nie hatten. Die du mir genommen hast.

Ich war so unglaublich wütend. Ich begann zu schreiben, meinen Ärger in Worte zu fassen, auf’s Papier zu bringen. Ich schrieb Briefe, unzählige. Doch nicht einer hat es zur Post geschafft. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich wollte nicht mehr so sehr leiden müssen – wegen dir. Wegen dem, was du mir genommen hast. Wegen dem, was ich nie bekommen werde.

Also schrieb ich einen letzten Brief an dich, um mit all dem abzuschließen. Dich hinter mir zu lassen, um endlich frei sein zu können. Schweiß, Tränen und Mut hat mich dieser Weg gekostet, als ich endlich den Entschluss gefasst hatte. Ich brachte den Brief zur Post – weinte dir ein letztes Mal hinterher. War es das Richtige? Wirst du dich diesmal melden? Oder war es das jetzt? Ich nahm mir vor, nie wieder eine Träne wegen dir zu vergießen – unwissend, was die nächsten Jahre noch alles passieren würde.

Wochen vergingen und eines Tages lag der Brief wieder in meinem Briefkasten. Unversehrt, lediglich ein Aufkleber mit der Aufschrift »Empfänger unbekannt« zierte das Kuvert. Der Brief, in den ich so viel investiert hatte, von dem ich mir so viel versprochen hatte, war einfach wieder da. Ohne dass du ihn gelesen hast. Ohne dass du ihn jemals lesen wirst. Und mit diesem Brief begann alles von vorn. Es folgten Jahre der Kontaktabbrüche, des Schweigens, des Wiederaufbaus und des Wiederabbruchs.

Unzählige Male hatte ich mir geschworen, dich endlich zu vergessen. Mich von dir zu befreien. Wollte eine Zeit lang nur heiraten, um das Einzige, was uns noch verband, zu verlieren; unseren Namen. Ich wollte in keinster Weise mehr an dich gebunden sein. Seelisch, physisch. Ich sprach über Adoption, später über Heirat. Ich rannte immer weiter, konnte nicht mehr aufhören zu rennen. Denn hätte ich das getan, hätte ich mich mit dem befassen müssen, was mein Leben für immer veränderte. Der eine Schlüsselmoment, der den ersten Riss in mein Leben brachte – auf den noch unzählige folgen sollten.

Also rannte ich, und rannte, und rannte. Bis ich ausgebrannt war. Irgendwann musste ich stehen bleiben, sonst wäre ich kollabiert. Ich hielt an. Und wurde mit so einer Wucht erschlagen, dass es mich zu Boden warf. Ich war mittlerweile selbst Mutter geworden und konnte manche Dinge vielleicht anders verstehen, als ich es damals tat.

Ich hatte ein De–ja–vu. Als ich das letzte Mal angehalten und mich umgedreht hatte, hatte sich kurz darauf mein gesamtes Leben verändert. Der erste Mann, der mich hätte lieben und ehren sollen, wurde zu dem Mann, der mir meine Kindheit genommen hat. Der mir sich selbst genommen hat. Der mich am meisten verletzt hat.

Von solcher Wucht erschlagen hinterfragte ich mein ganzes Sein. Durch Zufall stieß ich auf einen deiner Texte, in dem es um uns ging. Diese Worte zerschnitten mein Innerstes wie Rasierklingen. Das konnte nicht wahr sein. Ich habe so viele Jahre dafür gebraucht mir einzureden, dass du mich nicht liebst. Dass ich dir nichts bedeute. Denn wenn es so wäre, was würde das bedeuten? Du hättest einen Weg gefunden, da war ich mir sicher. Also konnte es nur so sein. Oder?

In Sekunden zerbrach meine Welt und ich mit ihr. Du hast mich geliebt, hast es immer getan. Und dennoch warst du nicht da. Du warst es einfach nicht!

Mir wurde klar, dass der Grund, warum all die Jahre so sehr weh taten, einzig und allein der war, dass ich dich ebenso liebte. Liebe und Schmerz liegen dicht beieinander. Ich konnte noch so sehr vor dir weglaufen, oder mir einreden, dass es anders wäre. Der ganze Hass, die ganze Wut, waren einzig und allein ein Ventil für das, was offensichtlich war. Wärst du mir egal gewesen, hätte ich diese Wut nicht gebraucht. Um mich selbst zu schützen. Um nicht zugrunde zu gehen, an dem, was mir nach all den Jahren klar geworden war:

An der Liebe hat es nie gelegen. So viele Jahre lebte ich in der Überzeugung, ungeliebt und verstoßen worden zu sein. Doch was viel schlimmer war: Die Liebe allein hatte nicht ausgereicht um die Distanz zwischen uns zu überbrücken. Manchmal ist Liebe halt einfach nicht genug.

Heute haben wir einander gefunden, durch einen Zufall wieder zueinander gefunden. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden, was einst gewesen. Wir können auch nicht vergessen. Nichts wird mehr sein, wie es war. Wir sind nicht Tochter und Vater, wir sind keine Freunde. Wir sind irgendetwas dazwischen. Und das ist okay. Deine Zeit wird knapp – so viel davon vergeudet durch sinnlosen Ärger, der vielleicht hätte vermieden werden können, wenn einer von uns beiden den Mut gehabt hätte, zu sprechen. Doch ich war blind vor Wut und du warst taub vor Kummer.

Alles, was uns bleibt, ist jetzt. Wir müssen nicht vergeben oder vergessen – ich kenne deine Fehler und du kennst meine. Sei dir gewiss, dass wenn es an der Zeit ist, deine Augen zu schließen, werde ich da sein.

Ich werde dich lieben – immer, Dad.