Du gehst eine Straße entlang. Oder durch einen Einkaufsladen. Alles ist gut. Du bist vielleicht in Gedanken, hörst Musik oder lässt dich einfach nur vom Alltagstrubel einlullen. Vielleicht planst du innerlich schon den nächsten Tag, oder die nächste Party, oder auch nur den restlichen Tag. Vielleicht planst du aber auch gar nichts und lebst einfach nur in den Tag hinein. Lässt die Eindrücke auf dich wirken. Bist dem Stress verfallen und froh, wenn der Tag um ist.

Und dann siehst du ihn. Den Mann, der für so vieles verantwortlich ist, das dich traumatisiert hat. Der in dein Leben kam und einen Scherbenhaufen hinterlassen hat. Du verfällst in eine Schockstarre. Du bist dir sicher, dass er es nicht sein kann – nicht wirklich – aber dennoch ist er jetzt hier.

Ist er gekommen um das zu beenden, was er vor Jahren begonnen hat? Er kann es nicht sein – das ist unmöglich. Die Angst lässt dich erzittern, streckt ihre großen, gierigen Krallen nach dir aus. Sie schnürt dir die Kehle zu, du ringst nach Luft und hast das Gefühl zu ersticken. Dein Herz beginnt schneller zu pulsieren, Schweiß rinnt dir an der Stirn und den Rücken herunter. Das ist unmöglich – das kann nicht sein.

Du drehst dich um, weil du dich nochmal vergewissern willst – doch er ist fort. Dein Blick scannt die Umgebung, doch du kannst ihn nicht mehr sehen. Hat dir dein Verstand nur einen Streich gespielt? Dich etwas sehen lassen, das gar nicht real war? Nein. Du weißt, was du gesehen hast. Wie auch immer das möglich sein kann. Dein Atem stockt, die Panik sitzt dir im Nacken während du versuchst, eine logische Erklärung zu finden.

Warum ist er hier? Was will er? Hat er mich auch gesehen? Hektisch drehst du dich um – immer wieder. Er verfolgt dich, ganz sicher. Dein Schritt wird schneller, immer wieder schaust du dich um, fühlst dich verfolgt. So viele Menschen, aber sein Gesicht siehst du nicht noch einmal. In Schock und Angst gehst du nach Hause, erzählst niemandem davon. Was hättest du auch sagen sollen, ohne dass sie dich für verrückt erklärt hätten? Sie hätten dir sowieso nicht geglaubt – also schweigst du.

Jedes weitere Mal, wenn du an diesem Ort bist, suchst du die Umgebung ab, schaust in jedes einzelne Gesicht. Versuchst Beweise zu finden für das, was dir vor einigen Tagen widerfahren ist. Doch es gibt keine. In dir schlummert immer noch die Angst – Tag ein, Tag aus. Sie ist immer da. Manchmal scheint sie zu schlafen, aber du kannst sie spüren. Ganz tief unten in einer dunklen Ecke fühlst du sie. Und sie wartet nur darauf, sich ausbreiten und über dich legen zu können. Sie will dich verschlingen und an dir nähren.

Irgendwann ist es soweit und du fühlst dich wieder weitestgehend sicher. Es ist nichts mehr passiert, du hast ihn nicht mehr gesehen, alles war gut. Dann bist du unterwegs, wandelst durch die Menschenmassen. Unzählige fremde Gesichter ziehen an dir vorbei, ohne dass du sie eines Blickes würdigst. Sie sind dir egal. Genauso egal wie die Orte, an denen es dich treffen kann. In der Stadt. Im Fitnessstudio. In einem Geschäft. In der Bahn. Im Supermarkt.

Du suchst deine Sachen zusammen, willst nur noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen und dann schnell wieder nach Hause. Du bist auf das Regal vor dir konzentriert – suchst diese eine bestimmte Packung Käse. Hinter dir eilen Menschen durch die Gänge, ziehen an dir vorbei und sämtliche Gerüche steigen dir in die Nase. Und plötzlich riechst du es. Du hältst in deiner Bewegung inne, bist wie erstarrt.

Dieser Duft. Dieses Parfum. Du kennst diesen Geruch nur allzu gut. Wieder spürst du die Krallen um deinen Hals, die dir die Kehle abschnüren. Du kannst kaum noch atmen, dein Brustkorb schmerzt. Dein Herz hämmert so stark, als wolle es deinen Körper verlassen. Du bekommst Gänsehaut, dir wird übel. Deine Hand liegt noch immer im Kühlfach auf der Käsepackung, die du gerade gefunden hattest.

Noch immer gelähmt schaust du dich um. Erst langsam, dann panisch, hektisch. Du lässt den Käse zurück ins Regal fallen und willst einfach nur raus. Die Luft ist plötzlich so stickig, viel zu dünn. Du drohst zu ersticken. Durch die Schnappatmung wird dir schwindelig. Du stolperst durch die Gänge wie ein Zombie. An jedem Gang machst du Halt, schaust nach links und rechts, guckst jedem Kunden ins Gesicht.

Die Bilder in deinem Kopf rauschen mit schwindelerregender Geschwindigkeit an deinem inneren Auge vorbei. Dinge, die du nicht sehen willst. Dinge, die du verdrängt hast. Dinge, die er dir angetan hat. Er will dich holen kommen. Er will dir oder deiner Familie etwas antun. Du hältst dir den Kopf, willst, dass das aufhört. Hämmerst dir mit der Faust gegen den Kopf und kneifst die Augen zusammen bis es weh tut.

Doch es hört nicht auf. Die Bilder lassen sich nicht verdrängen. Alles, was in diesem Jahr passiert ist, prasselt auf dich ein und das mit einer Wucht, die dich straucheln lässt. Du musst raus, einfach nur raus. Es ist viel zu laut, das Flackern der Neonröhren lässt dich zusammenzucken, die ganzen Farben, Formen und Gerüche vermischen sich zu einem einzigen Wirrwarr und betäuben dir alle Sinne. Es ist zu viel – viel zu viel!

Du brauchst Luft, Luft! Einfach nur Luft! Du fängst an zu husten, schirmst dir die Augen ab und stolperst benommen weiter von Gang zu Gang. Wenn du glaubst, etwas gesehen zu haben, gehst du nochmal zurück und schaust dir den Gang ein zweites mal an. Auf der Suche nach ihm. Er muss hier sein, ganz sicher. Er spielt seine Spielchen mit dir – genau wie er es damals schon getan hat. Er versteckt sich nur.

Der Geruch hat sich dir in die Nase gebrannt. Auch wenn du mittlerweile fast am anderen Ende des Ladens bist, kannst du es immer noch genau riechen. Tränen brennen dir in den Augen. Da vorne sind die Kassen. Raus, einfach nur raus. Den Einkauf hast du mittlerweile vollständig vergessen. Es ist dir auch egal. Alles, was zählt, ist zu überleben. Ihm zu entkommen. Er darf dich nicht kriegen – nicht noch einmal.

Du lässt den halb gefüllten Korb einfach vor den Kassen stehen und drängelst dich an den anderen Kunden, welche sich lautstark empören, vorbei nach draußen. Die Sonne brennt viel zu grell in deinen Augen, der Schweiß läuft an dir herunter. Du schnaufst und prustest als wärst du einen Marathon gelaufen.

Du willst die frische Luft in dir aufsaugen, aber etwas blockiert dich. Du hustest erneut. Die Leute schauen dich missbilligend und skeptisch von der Seite an, manche tuscheln sogar. Das haben bereits welche im Laden getan, aber es ist dir einfach nicht aufgefallen. Immer wieder schaust du dich um. Ist er da? Beobachtet er dich?

Dein Auto. Wo ist dein Auto? Du kannst dich für einen Moment nicht daran erinnern, wo du es geparkt hast. Intuitiv gehst du zu einer Reihe parkenden Autos und dir fällt wieder ein, dass du fast ganz hinten in dieser Reihe geparkt hast.

Im Auto setzt du dich hin, lässt die Fenster runter und schließt die Augen. Du bist klitschnass geschwitzt, alles brennt und tut dir weh und du bist unglaublich müde und erschöpft. Atmen. Ein, aus. Ein, aus. Wiederholen. Dein Herzschlag wird allmählich langsamer – die Panik steckt dir noch immer in den Knochen.

Trinken – du brauchst Wasser. Deine Kehle ist trocken und kratzt. Es tut weh, als du die ersten Schlücke nimmst. Fast die halbe Flasche trinkst du leer. Du musst dich beruhigen. Es ist alles gut. Dir kann nichts passieren, alles ist in Ordnung. Er ist nicht hier. Er kann nicht hier sein. Es ist alles gut. Immer wieder redest du dir das ein. Minutenlang.

Als du wieder klar denken kannst und dich beruhigt hast, willst du nur noch nach Hause ins Bett. Du lässt den Motor an und während du vom Parkplatz fährst, rufst du dir zwei Sachen immer wieder ins Gedächtnis;

Ich bin sicher.

Es ist vorbei.