Ich wühle – tief in mir. Immer weiter, immer tiefer. Versuche etwas zu finden, an dem ich mich festhalten kann – irgendwas. Um nicht unter zu gehen. Um mich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was mich zerfrisst.
Denn es ist da. Dieses Etwas, das meine Sinne betäubt, meinen Verstand vernebelt und meinen Geist lähmt. Dieses Etwas, das mich gefangen hält – in der Dunkelheit lauert, bis es mich verschlingen kann. Dieses Etwas, das meinen Tod will.
Viel zu lange schon lebt es in mir und nährt sich von meinen Gedanken. Meinen Gefühlen. Meiner Dunkelheit. Es wird größer, und mächtiger, und lauter. Es verschlingt alles, was mich zweifeln lässt. All meine Schuld, all meinen Selbsthass. Wie ein schwarzes Loch schluckt es jede Art von Materie.
Will es mich schützen? Oder will es mich töten? Vielleicht beides? Es sitzt tief in mir und auch, wenn ich es mal nicht spüre, weiß ich; es ist da. Manchmal, wenn der Schmerz zu groß ist und ich daran zu zerbrechen drohe, füttere ich es. Bewusst, unbewusst. Mit den Dingen, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen will. Weil sie zu sehr wehtun. Ich schiebe sie weg und werfe sie dem Etwas zum Fraß vor.
Mit Vergnügen labt es sich daran und wenn ich Glück habe, lässt es mich eine Zeit lang in Ruhe – als Dank. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht legt es sich gesättigt auf die Lauer und wartet nur darauf, sich den nächsten Bissen zu holen. Vielleicht ist das nur die Ruhe vor dem Sturm.
Es kann Fluch und Segen zugleich sein – diese Bestie, die in mir schlummert. Manchmal tritt es nach außen und hinterlässt Verwüstung und Chaos. Schlägt alles kurz und klein. Und wenn es sich wieder in die Versenke zurückzieht, stehe ich mitten in diesem Trümmerhaufen und muss die Aufräumarbeiten erledigen.
Es macht Dinge kaputt. Es besteht aus Zerstörung. Es ist Dunkelheit. So mächtig und böse, dass es sich nicht zähmen lässt. Allein der Versuch lockt die Verderbnis an. Ummantelt alles schöne und helle, das es einst gegeben hat und reißt es unbarmherzig in die unendlichen Tiefen.
All die Jahre habe ich es gefüttert – ohne es überhaupt zu bemerken. Indem ich Dinge verdrängte und nicht wahrhaben wollte, die nicht von der Hand zu weisen waren. Ich wollte mich nicht damit beschäftigen, was mich in Stücke gerissen hätte.
Hätte ich es zugelassen, wäre ich daran zerbrochen. Ich habe mich doch nur geschützt… Aber wovor? Wozu? Wenn doch alles, was ich einst verdrängte, irgendwann wieder mit geballter Kraft zuschlägt und mich komplett aus dem Leben reißt. Wenn alles, was ich dem Etwas einst in den Rachen warf, als Erbrochenes wieder vor mir landet – stinkend, modernd, verwesend.
Egal, wie sehr ich es in den letzten Jahren weggeschoben habe, es kommt wieder. Und zwar mit so einer Wucht, dass es mein Herz zerreißt, meine Gedanken sprengt und meine Seele erschüttert. Die Bestie erwacht zum Leben und wütet durch meine Eingeweide. Alles tut weh, alles blutet. Es schreit, es kreischt, es brüllt. So laut, dass mein Körper in seinen Grundfesten erschüttert wird. Es kratzt, es beißt, es schlägt wild um sich. Mit allen Vieren und rasiermesserscharfen Krallen reißt es alles nieder. Mein Inneres wird zu deren Spielplatz.
Irgendwann – müde vor Erschöpfung und Verausgabung – legt die Bestie sich träge nieder und nagt an den Überresten, ehe es in einen langen, ruhelosen Schlaf fällt. Ich – ebenso müde und kraftlos – bin wie leer gefegt. Mein Inneres ein Wrack. Zerrissen und zerwühlt von all jener Dunkelheit, die ich so lange Zeit fort geschoben habe. Um die ich mich nicht kümmern wollte. Die ich nicht sehen wollte.
Habe immer nur geschluckt, nicht darüber nachgedacht und die Gedanken und Gefühle in einem Schlund, der immer größer wurde, verschwinden lassen. Bis dieser kollabiert ist und wieder alles vor meinen Füßen landete und mich von selbigen riss. Unerwartet, unvorbereitet. Ich habe das Etwas gepflegt und gefüttert ohne überhaupt zu wissen, dass es da ist. Bis ich das Grollen tief in mir nicht mehr überhören konnte und erschüttert wurde.
Hätte ich mich ab und an darum bemüht, mir vorher anzuschauen, was ich der Bestie zum Fraß vorwarf, hätte vieles davon vielleicht verhindert werden können. Ich hätte mich zu ihr setzen und sie beobachten sollen. Mich von ihr anbrüllen und anknurren lassen sollen. Ihren heißen, tödlichen Atem in meinem Gesicht. Hätte ihr in die Augen sehen sollen um zu erkennen, wie viel Menschlichkeit darin steckt. Und hätte vielleicht erkannt, wie viel von mir selbst in dem Etwas steckt. Vor dem ich jahrelang davongelaufen bin, ohne es zu wissen. Vor dem ich mich versteckt habe, ohne es zu merken. Vor dem ich in die Knie ging ohne meine Knie zu beugen.
Ich hatte aufgegeben und mich bezwingen lassen. Mich dem Etwas hingegeben, bis es übermächtig wurde und mir alles um die Ohren schlug. Und in diesem Trümmerhaufen wurde mir klar, dass dieses Etwas ein Teil von mir war – dass ich die Bestie bin. Ich hätte in ihren Augen Menschlichkeit gefunden, weil ich in meine eigenen Augen geschaut hätte. Sie verkörpert nicht mein ganzes Sein, aber sie ist ein Teil dessen.
Ich muss sie nicht bekämpfen oder bezwingen. Jahrelang habe ich ihr nur Verachtung und Ignoranz entgegen gebracht – und mit dem gefüttert, das ich nicht mehr haben wollte. Ich werde sie nicht zähmen können, aber wenn ich lerne sie zu akzeptieren und vielleicht sogar zu lieben, werden wir nebeneinander koexistieren können.
Vielleicht nicht heute, und auch nicht morgen – aber irgendwann. Und dann werde ich vielleicht erkennen, dass sie all die Jahre genau das war, was ich brauchte. Um nicht unterzugehen. Und das, was ich suchte, die ganze Zeit sie war; die Bestie, die in mir schlummert.
Und bis mir das bewusst wird, lebe ich zumindest in dem Wissen, dass Dunkelheit manchmal heller leuchtet als das strahlendste Licht. Und meine Bestie nicht mein Untergang sein wird.