Jeden Tag stehen wir auf, schlüpfen in unsere Rolle und durchleben unsere Routine. Jeden Tag dasselbe Muster. Kleinigkeiten können variieren, doch letztlich ist es fast immer dasselbe. Unser Alltag wird durch Stress und Hektik bestimmt, Konsum steht ziemlich weit oben auf der Prioritätenliste unserer Wegwerfgesellschaft.
Schon morgens wachen wir mit dem Gedanken daran auf, was wir am bevorstehenden Tag für Termine haben und was alles erledigt werden muss. Wir beeilen uns, um morgens schon viel geschafft zu bekommen, hetzen unsere Kinder und fahren bereits total angespannt zur Arbeit. Oder wüten zuhause herum weil wir einfach keine Ruhe finden. Am besten tun wir mehrere Dinge gleichzeitig, um die Effizienz zu steigern.
Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit wird dies besonders deutlich. Wir zerbrechen uns den Kopf darüber, was wir einander schenken können, was wir kaufen können. Wir laufen von Geschäft zu Geschäft, oder durchstöbern stundenlang sämtliche Onlineshops, um die besten Geschenke am preiswertesten zu ergattern.
Am besten bestellen wir noch reduzierte Ware für uns selbst oder den nächsten Anlass zum Schenken mit, ganz gleich ob wir das wirklich brauchen oder nicht. Bereits Wochen vor dem eigentlichen Fest sind viele Menschen davon unglaublich gestresst. So viel Arbeit, so viel Organisation, so hohe Kosten.
Der eine hat keine Lust auf Tante Frieda, weil sie sich etwas »komisch« verhält, der andere möchte Opa Heinz nicht sehen, weil der oft knauserig und schlecht gelaunt ist und wieder ein anderer weigert sich zum Fest zu kommen, weil der letzte Streit mit Bruder Gustav noch nicht geklärt ist.
Doch was wir alle dabei oft einfach vergessen: Wir sind alle nur Menschen und auf unsere eigene Art und Weise wunderlich. Jeder von uns wird jemanden in seinem Leben haben, der über uns selbst sagt wir seien »komisch«. Aber das ist ok.
Vielleicht ist Tante Frieda »komisch«, weil es einfach ihre Art ist und sie merkt, dass sie nicht erwünscht ist oder nur ungern gesehen wird. Vielleicht ist Opa Heinz so knauserig, weil die Rente kaum zum Leben reicht und die Enkel sich nur beschweren, warum nicht sie nicht mehr Geld geschenkt bekommen haben, und ist schlecht gelaunt, weil er ein hartes Leben hinter sich hat und in seiner Generation vieles anders war, als in unserer heutigen, schnelllebigen Welt. Und Bruder Gustav hat an dem Streit vielleicht genauso sehr zu knabbern wie sein Gegenüber auch, nur wird ihm nicht die Chance gegeben, sich zu erklären und eine Versöhnung herbeizuführen.
Wir haben verlernt, mitfühlend zu sein und uns in andere hineinzuversetzen. Viel öfter sollten wir uns in Erinnerung rufen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein und zu fühlen. Uns könnten diese Schicksale mal genauso sehr ereilen – das wissen wir nicht. Niemand kann wissen, ob man nicht sogar das letzte Mal mit jemandem Weihnachten gefeiert hat. Jemanden das letzte Mal umarmt hat, jemandem das letzte Mal gesagt hat, dass man ihn liebt. Man sollte nicht im Streit auseinander gehen und immer nur die negativen Dinge sehen.
Weihnachten bedeutet so viel mehr als das. Es soll uns daran erinnern, nicht nur an uns selbst zu denken, sondern dem Wort »Nächstenliebe« auch wieder eine Bedeutung zu geben. Es soll uns daran erinnern, innezuhalten und mal eine Runde auszusteigen aus dem ganzen Alltagsstress und der Hektik. Doch vor allem soll es uns an die Liebe erinnern. Jene Liebe, die wir alle in uns tragen und an andere weitergeben sollten.
Jeden Morgen, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, komme ich an einer Firma vorbei. Dort stehen einige Silos; grau, groß und nicht besonders schön. Doch jedes Jahr zur Weihnachtszeit macht sich jemand die Mühe, einen Tannenbaum zu schmücken und diesen auf das höchste Silo zu stellen. Als ich das letztes Jahr zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich mir: Was ein Mist – wer macht sich denn die Mühe, einen geschmückten Tannenbaum auf ein Silo zu stellen? Und vor allem warum?
Ich habe es beschmunzelt, wenngleich ich nicht abstreiten kann, dass es dennoch sehr schön aussah – vor allem abends, wenn man im Dunkeln daran vorbei fuhr und den Tannenbaum dort oben leuchten sah. Gestern war es dann wieder soweit und der Tannenbaum stand an dem Platz, wo er auch zuvor das Jahr stand.
Ich fuhr gestern morgen an diesen Silos vorbei und als ich den Tannenbaum sah, musste ich lächeln. Nicht, weil ich es lustig fand, sondern weil ich mich gefreut habe. Es war schon fast so, als würde man einen alten Freund wiedersehen. Und schon morgens freute ich mich darauf, abends wieder dort vorbeizufahren und den Tannenbaum leuchten sehen zu können.
Genau das ist es, was Weihnachten ausmacht. Es geht nicht um die Geschenke oder darum, sich um Materielles Gedanken zu machen. Es geht um die Zeit, die man miteinander verbringt. Sowohl an den Festtagen selbst, als auch die Zeit davor. Gemeinsam schmücken, Plätzchen backen, Weihnachtslieder hören, herum albern.
Bei den Silos haben sich Menschen die Arbeit gemacht, einen Baum zu schmücken und diesen dort oben aufzustellen. Sie selbst haben davon recht wenig, weil weder die Firma noch die Angestellten von diesem Baum profitieren. Das wurde gemacht, um anderen eine Freude zu bereiten. Damit sich jemand wie ich darüber freut, dass sich jemand diese Arbeit und mich damit glücklich gemacht hat.
Letztlich geht es gar nicht um das ganze Drumherum – das sind nur die Mittel zum Zweck. Es geht um das, was wir daraus lernen und für uns mitnehmen sollen. Achtsamer und mitfühlender im Umgang miteinander zu sein. Es ist so einfach, jemandem ein Lächeln zu schenken, oder ihn dazu zubringen. Warum also nicht jetzt wieder damit anfangen?
Wenn wir verstehen, dass die Zeit, die wir jemandem schenken, das höchste Gut ist, was man jemandem schenken kann und es nichts teureres auf der Welt gibt als Lebenszeit, fangen wir an, den Sinn der Weihnacht zu verstehen – und können beginnen, für andere der Tannenbaum auf dem Silo zu sein.
In diesem Sinne eine schöne und besinnliche Adventszeit!