Ich widme diesen Text meiner Pflegefamilie. Danke für alles.
Du wachst auf – und denkst, alles sei wie immer. Doch das ist es schon lange nicht mehr. Etwas hat sich verändert. Du bist noch klein, so klein, verstehst nicht, was hier passiert. So viele fremde Menschen. Sie gehen ein und aus, an dem Ort, den du einst »zuhause« nanntest. Doch es fühlt sich anders an. Sie reden mit dir, aber alles was sie sagen zieht an dir vorbei. Es dringt nicht zu dir durch – zu sehr bist du damit beschäftigt verstehen zu wollen, was hier geschieht. Was diese Gefühle, die in dir aufsteigen, zu bedeuten haben.
Und dann wird es plötzlich ganz ruhig. Immer leiser – alle Leute gehen. Nur du bist noch da. Allein. Und um dich herum nichts als Stille und eine Dunkelheit, die immer größer zu werden scheint. Du willst schreien, doch so sehr du dich auch bemühst; deine Stimme bleibt stumm. Die Stille ist so ohrenbetäubend, dass es wehtut. Dann ein Knall, alles wird schwarz, und eine lange Zeit nichts mehr.
Du wachst auf – und denkst, alles sei wie immer. Doch das ist es schon lange nicht mehr. Etwas hat sich verändert. Du reibst dir die Augen, weißt kurze Zeit nicht, wo du bist. Alles ist so fremd. Dann kommen langsam deine Erinnerungen wieder. Du hattest einen Blackout, weißt nicht, wie du hier her gekommen bist. Du weißt nur, dass es jetzt so ist und du stark sein musst. Gerüche steigen dir in die Nase. Nicht zuzuordnen, weil auch diese fremd sind.
Du fühlst dich so allein. Du bist noch klein, so klein, verstehst nicht, was hier passiert. Ein fremdes Haus, fremde Menschen. Neugier, aber auch Angst steigen in dir auf. Wird es mir hier gut gehen? Wird es meinen Liebsten gut gehen, jetzt, da ich nicht mehr bei ihnen bin?
Unsicher gehst du umher, fühlst dich wie ein ungebetener Gast. Ein Eindringling, dessen Schritte genau beobachtet werden. Auch hier gehen fremde Menschen ein und aus, an dem Ort, der jetzt dein Zuhause ist. Sie reden mit dir, aber alles was sie sagen zieht an dir vorbei. Es dringt nicht zu dir durch – zu sehr bist du damit beschäftigt, deine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Mit der Reizüberflutung klarzukommen, die alle deine Sinne zu betäuben scheint.
Mit jemandem zu reden traust du dich nicht, also schreibst du auf, was dich beschäftigt. Die fremden Menschen sind lieb zu dir, aber du weißt, dass du nicht zu ihnen gehörst. Und das wissen sie auch. Manche von ihnen lassen es dich spüren, dass du unerwünscht bist. Also schweigst du – versuchst, nicht aufzufallen. Tag ein, Tag aus. Jeder Tag ähnelt dem anderen. Dabei hoffst du nur, dass du eines Tages aufwachst und alles wieder wie vorher ist. Dass alles nur ein böser Traum ist und es nichts zu fürchten gibt.
Dann wachst du auf – und denkst, alles sei wie immer. Doch das ist es schon lange nicht mehr. Etwas hat sich verändert. Du reibst dir die Augen, weißt kurze Zeit nicht, wo du bist. Alles ist so fremd. Dann kommen langsam deine Erinnerungen wieder. Du hattest einen Blackout, weißt nicht, wie du hier her gekommen bist. Du weißt nur, dass es jetzt so ist und du stark sein musst. Du hast ein Dejavue. All das scheint dir schon einmal passiert zu sein. Trotzdem ist es diesmal wieder anders. Es sind andere fremde Menschen, und auch die Gerüche sind anders. Alles, was auf dich einprasselt, ist fremd.
Werd ich hier bleiben? Ist dies nur eine weitere Haltestelle? Fragen, aber keine Antworten. Unsicher gehst du umher, fühlst dich wie ein ungebetener Gast. Ein Eindringling, dessen Schritte genau beobachtet werden. Auch hier gehen fremde Menschen ein und aus, an dem Ort, der jetzt dein Zuhause ist. Kann man einen Ort »zuhause« nennen, wenn man ihn mit fremden Menschen teilt?
Die Zeit vergeht und du gewöhnst dich daran, dass Menschen in deinem Leben kommen und gehen, als wärst du nur ein Bahnhof; nicht dafür geschaffen, dass jemand bei dir bleibt. Du hörst, was sie dir sagen. Du weißt, was sie von dir verlangen. Langsam beginnst du zu verstehen, auch wenn du nichts verstehst. Anpassen ist die einfachste Möglichkeit. Also schweigst du – versuchst, nicht aufzufallen.
Die mittlerweile nicht mehr ganz so fremden Menschen sind lieb zu dir, aber du weißt, dass du nicht zu ihnen gehörst. Und das wissen sie auch. Manche von ihnen lassen es dich spüren, dass du unerwünscht bist. Du versuchst, darüber zu stehen, aber es tut weh. Das Gefühl zu haben, nirgends dazuzugehören. Sie geben sich Mühe, und du bist ihnen dankbar. Aber zu sehen, was du nie hattest, hinterlässt Wunden. Mit jemandem zu reden traust du dich nicht, also schreibst du auf, was dich beschäftigt.
Die Zeit vergeht und du wirst älter. Du hast dich mit dem Gedanken angefreundet, hier zu leben und hast den fremden Menschen eine Chance gegeben, wie sie einst dir eine Chance auf ein neues Leben gegeben haben. Du hast sie lieb gewonnen und sie sind dir ans Herz gewachsen. Die einst so fremden Menschen sind deine engsten Bezugspersonen geworden. Man könnte gar von Familie sprechen. Zusammengewachsen durch die Wurzeln der Liebe. Vielleicht kein Wunschkind, aber dennoch gewollt.
Es war nicht immer einfach und oft gab es Krieg – mit dir selbst und gegen die Anderen. Vieles lief nicht so, wie du es dir erhofft hast. Vieles lief bei weitem anders, als es gut gewesen wäre. Vieles hätte besser sein können, wäre man mehr aufeinander zugegangen. Doch so vieles auch schief gelaufen sein mag, hat es dennoch nur stärkere Bande geknüpft. Und dann wachst du auf – und denkst, alles sei wie immer. Doch das ist es schon lange nicht mehr. Etwas hat sich verändert.
Du weißt, dein Weg war hart und oft hättest du dir gewünscht, dass die Dinge anders gelaufen wären. Aber du weißt jetzt, dass genau dieser Weg es war, der dich an den Punkt gebracht hat, an dem du heute bist. Du bist dankbar. Für die Chance, die dir gegeben wurde. Für den Schmerz, an dem du gewachsen bist. Für das Wissen, dass Geborgenheit und Nestwärme nichts mit Blutsverwandtschaft zu tun haben. Vielleicht bist du nicht ihr leibliches Kind, aber du wirst geliebt, als wärst du es.
Du wachst auf – und denkst, alles sei wie immer. Doch das ist es schon lange nicht mehr. Etwas hat sich verändert. Du bist angekommen. Weil aus Fremden Familie wurde.