Suizidgedanken können u.U. tröstlich und endlich wirken. Aber dieser Weg ist nie der richtige. Er beendet den Schmerz nicht, sondern projiziert ihn nur auf die Menschen, denen du etwas bedeutest – und ja, es gibt sie. Auch wenn du das vielleicht zeitweise nicht sehen kannst. Es gibt immer einen Ausweg und wenn du den alleine nicht findest, such dir bitte Hilfe (Telefonseelsorge, Therapeut, Psychiater, etc.). Es gibt immer einen anderen Weg. Schmerz ist vergänglich, Suizid hingegen kann nicht rückgängig gemacht werden.
Jeden Tag sind sie da. Diese Gedanken. Im Alltag verstreut, verstecken sich und sähen leise Zweifel. Was würde passieren, wenn du einen Moment zu lang nicht aufpasst und dein Auto von der Straße abkommt? Oder du einfach das Lenkrad herum reißt? Was wäre das Letzte, an das du denken würdest? Wärest du tot, oder würdest du nur schwer verletzt ins Krankenhaus kommen? Wer würde dich besuchen kommen, sich um dich sorgen? Andere könnten zu Schaden kommen – du drängst die Gedanken beiseite und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.
Der Balkon ist nicht wirklich hoch, das Geländer stabil. Doch ist es wirklich so stabil? Wenn du dich mit deinem vollen Gewicht dagegen lehnst, würde es auch dann noch halten? Wie würdest du aufschlagen? Mit dem Kopf voran, oder hast du Glück und brichst dir vielleicht nur den Arm? Wenn du so darüber nachdenkst, wäre das ein angenehmer Schmerz im Vergleich zu der täglichen Leere, die dich nichts mehr fühlen lässt. Wer würde dich finden? Die Nachbarn, dein Mann? Du schiebst die Gedanken beiseite, gehst wieder rein und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.
Die Messer in der Küche sind scharf – gleiten selbst durch hartes Gemüse wie durch weiche Butter. Nur ein Schnitt, oder zwei. An Stellen, die niemand sieht. Vielleicht etwas weiter gehen, den einen oder anderen Schnitt zu tief setzen? Wie tief müsste der Schnitt wohl sein, wie groß? Wie viel Druck bräuchte es, um die passende Tiefe zu erreichen? Wo wäre der richtige Ort?
In der Badewanne – wie in den meisten Filmen – oder direkt in der Küche? Wer würde dich finden und wie lange würde es dauern? Könnte man dich noch retten, oder wäre bereits alle Hoffnung verloren? Wie lange müsstest du wohl auf der Geschlossenen bleiben, bis du gut genug verkaufen kannst, dass es dir besser gehen würde? Du schiebst die Gedanken beiseite, legst das Messer zurück in die Schublade und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.
Bei jedem dieser Gedanken stumpfst du weiter ab. Etwas in dir beginnt zu verfaulen, die Dunkelheit breitet sich aus. Die Gedanken kommen jeden Tag, immer mal wieder. Du begrüßt sie wie alte Freunde, weil sie dir mittlerweile mehr als vertraut sind. Diese Müdigkeit legt sich wie eine Decke um deine Schultern, hüllt dich ein. Stimmen flüstern aus der Dunkelheit, wollen dich überzeugen zu ihnen zu kommen. »Auf was wartest du noch? Komm zu uns.«, »Es wird sich nichts ändern. Wie lange willst du das noch aushalten?«, »Nicht mehr lange und du wirst nachgeben. Trau dich – es würde dich eh niemand vermissen.«, »Vielleicht wartest du noch, bis die Kinder in einem selbstständigen Alter sind. Aber dann kannst du ruhigen Gewissens zu uns kommen. Sie hätten eh eine bessere Mutter verdient. Du tust ihnen also nur einen Gefallen.«
Weitere, unzählige Gedanken schwirren durch deinen Kopf. Sie vernebeln deinen Verstand. Du fühlst dich wie in Trance, als wärst du nicht mehr du selbst. Ein Zuschauer in deinem eigenen Leben, unfähig zu handeln. Deine Hände sind gefesselt, an deinen Füßen scheppern die Ketten und jeder Schritt tut weh. Warum mache ich das alles überhaupt noch? Ich lebe sowieso nur noch für andere – was würde es für einen Unterschied machen? So viele Gelegenheiten, zum Greifen nah. Eigentlich will ich nicht sterben, nur nicht mehr aufwachen.
Im Schrank ist ein ganzes Regalbrett voll mit Tabletten. Welche wären am ehesten geeignet, um sanft einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen? Schmerzmittel, Antibiotika, Antidepressiva, Neuroleptika? Alles durcheinander, von jedem etwa eine Hand voll? Ibuprofen, Citalopram, Lorazepam, Sertralin, Tilidin, Promethazin, Pipamperon, Quetiapin, Venlafaxin? Welche Dosis bräuchte es – wäre ein Blister aus jeder Packung ausreichend? So viele Medikamente aus den letzten Jahren, die dir hätten helfen sollen. Nicht eines hat den gewünschten Erfolg gebracht. Unangenehme Nebenwirkungen waren das Höchste an Gefühlen. Erinnerungen an die Geister deiner Vergangenheit.
Doch das kannst du deiner Familie nicht antun, auch wenn du wahrscheinlich nur eine Belastung für sie bist und sie ohne dich besser dran wären. Wärst du nicht gewesen, wäre ihnen so viel erspart geblieben. Du hast so viel Leid und Schmerz über sie gebracht, Probleme verursacht. Vielleicht solltest du es doch versuchen – beim ersten Mal warst du selbst dafür zu blöd und hast nur noch mehr Chaos angerichtet. Oder vielleicht lieber doch nicht. Noch nicht, mal sehen. Also legst du die Schachteln zurück ins Regal, schiebst die Gedanken beiseite und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.
Du merkst, dass die Dunkelheit in dir größer wird. Sie zehrt nach dir, verschlingt nach und nach weitere Teile deiner Selbst, bis irgendwann nichts mehr von dir übrig ist. Die Fäulnis breitet sich aus, du kannst sie förmlich schmecken. Du weißt nicht, wie lange du noch dagegen ankämpfen kannst – die Stimmen in deinem Kopf sind so verlockend. Sie sagen doch die Wahrheit. Sie würden dich nicht belügen – nicht sie. Du entfernst dich immer weiter von der Realität und die Gedanken werden immer mehr die deine. Sie fühlen sich nach zuhause an. Als hätte man den endlosen Kampf endlich gewonnen.
Deine Augen sind blind geworden, deine Ohren taub. Du hörst nicht die verzweifelten Schreie deiner Liebsten, die dich zurück ins Leben holen wollen. Zu sehr und zu lange lebst du schon in einer Welt zwischen Realität und Illusion. Kannst nicht unterscheiden, was noch echt ist und was nicht. Wem du vertrauen kannst, und wem nicht. Welche Stimmen real sind und welche nicht. Du fühlst den Rausch, der dich schweben lässt. Mit dem die Realität erträglich wird. Etwas zu viel Alkohol, ein paar Tabletten zu viel. Und der Rausch würde für immer anhalten.
Das Papier vor dir ist leer. Tränen tropfen auf das Papier, während du das Blatt mit Tinte füllst. Deine letzten Zeilen, die nicht deine letzten Zeilen sein sollten. Und wahrscheinlich auch nicht werden. Du schreibst alles nieder, was dich in den letzten Jahren so kaputt gemacht hat. Dass du dich selbst nicht lieben kannst. Dass du alles immer nur geschluckt hast, dich immer so einsam gefühlt hast. Dass es dir leid tut.
Du erwartest kein Verständnis, denn das hast du nie bekommen. Durftest nie die Familie haben, die du dir gewünscht hättest. Wurdest nie so sehr geliebt, wie du es gebraucht hättest. Jeder interessierte sich ein wenig, aber keiner genug. Die Tinte verwischt an manchen Stellen und wird von deinen Tränen aufgesogen. Du wünscht dir so sehr, dass das alles endlich endet. Niemand weiß, wie kaputt du wirklich bist und wenn sie es wüssten, würden sie sich von dir abwenden wie es bereits alle zuvor in deinem Leben getan haben.
Nachdem du etliche Seiten gefüllt und unzählige Tränen geweint hast, wischt du dir das Blut von den Armen und die Tränen aus dem Gesicht. Du konntest nicht anders. Wie abgestumpft sitzt du da, alles brennt.
Du trennst die Blätter aus dem Block und heftest sie in deinen Ordner, in dem schon so viele Abschiedsbriefe aus den letzten Jahren ihren Platz gefunden haben. Du vernichtest die Beweise, machst sauber, ziehst ein langärmliges Oberteil an. Der Mensch im Spiegel lächelt dir schwach entgegen – du erkennst ihn nicht wieder. Empfindest so viel Abscheu ihm gegenüber.
Dann schiebst du die Gedanken beiseite und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.